Fortsetzung….
Lenny zündete sich eine Zigarette an, ging zum Klavier und begann zu spielen. Er deutete, doch Platz zu nehmen. Das tat ich auch. Schon nach den ersten Tönen wurde mir ganz anders. Der Maestro spielte die West Side Story. Es war wunderschön, ich war wie Trance. Die Tränen rannen mir über die Wangen. Dies bemerkte Lenny natürlich, doch ich wollte sie nicht verbergen und ließ so meinen Gefühlen vollen Lauf.
Ich weiß nicht, wie lange ich da gesessen bin. Eine viertel Stunde oder eine ganze Woche. Es war einzigartig! West Side Story, vom Komponisten selbst, und nur für mich allein.
Beim nach Hause fahren schwebte ich immer noch auf „Wolke sieben“. Völlig überwältigt weckte ich meine Frau noch spät nachts auf, um ihr alles erzählen zu können. Die ganze Nacht konnte ich nicht einschlafen, so bewegend war es noch immer für mich. Als ich dieses einzigartige Erlebnis ein bisschen verarbeitet hatte, schlief ich vor Erschöpfung doch für eine kurze Weile ein.
Am nächsten Tag war überraschender Weise schon die Abreise meines so geliebten Maestros. Sofort ging ich bei meinem Dienstantritt zu Lenny hoch, um mich zu verabschieden. Er wartete schon auf mich. „Hello, time to say goodbye”. („Hallo, wir müssen uns verabschieden“) Mit diesen Worten empfing er mich. „This is personally for you, I want to give you this.” (“Das ist für Sie persönlich, das möchte ich Ihnen schenken“) Während er das aussprach, überreichte er mir ein Foto von sich mit persönlicher Widmung und ein Buch, das er geschrieben hat.
Dafür dankte ich ihm vielmals und auch für die großartige Zeit, die ich mit ihm verbringen durfte. Wir verabschiedeten uns voneinander, wie es sich für zwei dicke Freunde gehörte, und freuten uns schon aufs nächste Mal. Abschied zu nehmen, fiel uns beiden sehr schwer. Mir kullerten die Tränen wieder einmal über die Wangen und auch Lenny bekam feuchte Augen. Nach seiner Abreise war ich natürlich sehr traurig, doch es verging mit der Zeit, denn wir wollten uns ja schon bald wiedersehen. Das war im Herbst 1986.
Nun hörte ich schon sehr, sehr lange nichts mehr von ihm. Es war auch keine Reservierung in Sicht. Als am 15. Oktober 1990 in den Nachrichten gemeldet wurde, dass Leonhard Bernstein nach langer Krankheit am Tag zuvor in New York verstorben sei, brach einiges in mir zusammen. Ein großes, dunkles Loch tat sich vor mir auf.
Ich machte mich an diesen Morgen fertig, um außer Haus zu gehen, als mich meine Frau fragte, wo ich den hinwill, denn ich hätte doch heute frei. Nachdem ich ihr erzählt hatte, welche Nachricht mich eben erreicht hat, verstand meine Frau sofort, was ich nun tun wollte. Auf dem direkten Weg fuhr ich in den Stephansdom, um eine Kerze für meinen Freund anzuzünden. Dort angekommen, gelang es mir nur mit Mühe, ein Licht für ihn anzustecken. Meine Hände zitterten und die Tränen liefen.
Die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit, um einen der größten Männer seines Faches, ließen meine Trauer nur langsam verebben. Bis heute habe ich das beibehalten und habe jedes Jahr am 14. Oktober, am Sterbetag von Leonhard Bernstein, einen Termin in der Stephanskirche.
Inzwischen überwiegen natürlich bisweilen meine Erinnerungen an diese schöne Zeit mit „meinem Gast“ die Tränen.
Lenny, ich werde dich NIE vergessen und nochmals DANKE, dass ich Dich kennen lernen durfte.
Wolfgang
*** ENDE ***